Predigtgedanken 05.11.2017
Christen, nicht die Juden sind gemeint
(Bernhard Bossert 2017)
Jesus kritisiert in die Pharisäer in einem Ton, dass man sich als einfacher Bibelleser nur wundern kann. Matthäus überträgt die Kritik Jesu auf die Christengemeinde seiner Zeit. Was Jesus fordert, ist zeitlos und ruft einen jeden von uns zur Selbstkritik.
Jesus hält sich in Jerusalem auf. Bald schon wird er seinen Leidensweg gehen müssen. Wir hörten von Auseinandersetzungen mit den Schriftgelehrten und Pharisäern. Heute spricht Jesus über sie mit scharfen Worten zum Volk und zu den Jüngern. Das Fehlverhalten, das er am schlechten Beispiel der Pharisäer anprangert, hat sich in den judenchristlichen Gemeinden des Matthäus eingeschlichen. Er warnt die Christen, nicht die Juden.
Die Pharisäer damals…
Die Pharisäer sind gesetzestreue Menschen. Sie leben mit Selbstdisziplin, sie fasten, geben den Tempelzehnten, halten den Sabbat und die Speise- und Reinigungsvorschriften. Sie kennen die 248 Gebote und 365 Verbote und versuchen sie zu befolgen. Das führte oft zu einem stolzen und selbstgerechten Verhalten. Sie halten sich für Gott gefällig und verdanken, was sie tun, nicht der Gnade Gottes, sondern der eigenen Leistung. Jesus stand ihnen nahe, weil sie das Gesetz des Moses weitergaben und suchte mit ihnen den Dialog. Er stieß bisweilen auf eine Gesetzestreue, die dem Buchstaben, und nicht der Liebe entsprang. Jesus setzt sich zu Gunsten des armen, schwachen und kranken Menschen ein. Er führte auf den wahren und ursprünglichen Kern des mosaischen Gesetzes zurück: „Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat.“ Das brachte ihm oft Unverständnis statt Einsicht. Die Pharisäer reagierten mitunter mit Aggression, Wut und Drohung.
In der frühchristlichen Gemeinde, für die Matthäus schreibt, gab es Tendenzen, dass einzelne sich besser vorkamen als andere. Titel waren wichtig. Eine sich nach jüdischem Vorbild herausbildende Kleiderordnung tat das Ihrige. Es bildete sich ein Gefälle von Titel- und Würdenträgern zu den Armen, Einfachen und Ungebildeten. Doch für Christen sollte nur das Beispiel Jesu maßgeblich sein. Er hat vorgelebt, was er sagte: „Der Größte von euch soll euer Diener sein.“ Wie Jesus sollen Christen sich an der unendlichen Liebe des himmlischen Vaters zu uns Sündern orientieren. Ihr einziger Lehrer bleibt Jesus Christus. Der Geist der geschwisterlichen Liebe soll in der Gemeinde Leiter und Untergeordnete verbinden.
... "Pharisäer" heute
Nicht nur die Träger kirchlicher Dienste und Ämter sind heute bei uns von dieser Kritik Jesu betroffen. Sicher müssen alle die vorne stehen oder leiten, sich fragen, ob sie dienen oder Macht ausüben. Können sie Kritik ertragen? Können sie auch in die zweite Reihe zurücktreten? Kritisiere ich nur als Gemeindeglied, oder bin ich z.B. bereit, für die kommende Pfarrgemeinderatswahl (die in Bayern im Februar 2018 stattfindet) zu kandidieren? Ergreife ich Partei für den Glauben? Bekenne ich mich zu Jesus im Alltag? Verstehe ich meinen Dienst aus Demut und Einfachheit heraus? Bin ich bereit, einen an sich guten Vorschlag zurückzunehmen, wenn es das Gesamtwohl der Gemeinde erfordert? Bringe ich Liebe in die Gemeinde?
Schließen möchte ich mit dem bekannten Gebet eines chinesischen Christen:
Herr, erwecke Deine Kirche und fange bei mir an.
Herr, baue Deine Gemeinde und fange bei mir an.
Herr, lass Frieden überall auf Erden kommen und fange bei mir an.
Herr, bringe Deine Liebe und Wahrheit zu allen Menschen
und fange bei mir an.
Pater Bernhard Bossert, 05.11.2017
Pater Bernhard Bossert

Weniger reden, mehr tun und leben - Zeitlose Ansprüche und Zumutungen, nicht nur für Erziehende
(Sozialreferat der Diözese Linz 2017)
Wer mit Kindererziehung zu tun hat, weiß, wie wichtig neben den Worten auch das eigene Vorbild ist. Wenn auf große Worte keine Taten folgen, werden wir unglaubwürdig. Auch wenn wir hinter unseren Idealen oft zurückbleiben, ist es jedoch wichtig, Ideale, Werte und Ziele zu haben.
Gute Beobachter
"Wir brauchen unsere Kinder nicht erziehen, sie machen uns sowieso alles nach!" Dieses Zitat wird Karl Valentin zugeschrieben, und wer Eltern und ihre Kinder beobachtet oder selber in einer dieser Rollen steckt, wird zustimmend nicken. Wer den Kindern das Wasser-Trinken als etwas Gesundes predigt und selber Kracherl trinkt, kann den Wunsch des Kindes nach einem süßen Getränk schwer vom Tisch wischen. Nicht nur den Erziehenden fällt es auf den Kopf, wenn sie etwas anderes tun als sie von anderen verlangen.
Diese Diskrepanz, diesen Widerspruch zwischen Worten und dem Tun gab es freilich immer schon. Heute haben wir eine Beobachtung Jesu gehört. Die Schriftgelehrten und die, die es besonders genau mit den Gesetzen nehmen, legen die Tora, so der theologische Fachausdruck für das jüdische Gesetz, so aus, dass das gesamte Gesetz für den Alltag kaum bewältigbar ist. Kaum zu schaffen und entmutigend für die Menschen! Und sie selber gefallen sich in der Rolle der Lehrer, deren Wort alles gilt. Aber die Vorschriften gelten für die anderen, nicht für sie selber. Wer Vorschriften macht, nimmt sich Macht und hebt sich von anderen ab.
Was folgt auf große Worte?
Wie ist das bei großen „Gestalten“ in der Welt? Bei denen, die Weltpolitik und -geschicke lenken und bestimmen? Die uns öffentlichkeitswirksam zum Klimaschutz mahnen, zum Frieden, zur Nothilfe, zur Solidarität? Fehlt da nicht allzu oft die Konsequenz in den politischen Umsetzungen, das zur Verfügung gestellte Geld für die humanitäre Hilfe, die gerechtere Gestaltung der Wirtschaft und des Geldmarktes? Wie frustrierend sind oft die Zeiten nach den großen Worten, wie hohl klingen sie auf Dauer, wie wirkungslos verhallen die Appelle.
Das kritisieren wir zu Recht: Dass ein Wort leicht gesprochen ist, aber nicht zum Leben kommt. Dass vor Wahlen vieles versprochen wird, was nachher nicht umgesetzt wird. Sei es, weil es überhaupt unmöglich umzusetzen ist - und das auch vorher schon klar war -, sei es, weil der Wille fehlt oder die Partner, es umzusetzen. Wir erwarten, dass Menschen, die wichtige Ankündigungen machen, diese auch wahr machen und große Dinge zum Guten bewegen.
Wenn politisch, wirtschaftlich oder religiös maßgebliche Menschen schon so schwach in der Verwirklichung ihrer Worte sind, warum sollen wir, die wir weniger mächtig und einflussreich sind, uns noch bemühen? Man möchte sich doch als „Kleiner“, als „Kleine“ herausreden, dass „die oben“ das auch nicht machen. Vielleicht wäre das zulässig!
Und was tue ich?
Ich hoffe, Sie haben ein Gewissen, das jetzt ruft: „Nein“! Es geht nämlich nicht nur um die, die laut rufen und vorne stehen, sondern um mich - was tue ich, was kann ich tun. Was ist mir möglich? wozu stehe ich? Zwar ist es auch bei uns manchmal so, dass wir hinter den eigenen Worten zurückbleiben – das ist bitter, aber manchmal eine Tatsache. Aber zu tun, was ich zu tun vermag, ist besser als vorne zu stehen, die Ehrenplätze einzunehmen und mich bedienen zu lassen.
Wir wissen, dass es schwer ist, immer das zu tun, was man versprochen, laut gesagt, sich vorgenommen hat. Man ist gescheitert. Doch wenn man wohlwollend auf dieses Zurückbleiben hinter den eigenen Ansprüchen schaut, aber anerkennt, dass man sich gute, „hehre“ Ziele gesetzt hat, dass die Richtung des Denkens und die Ausrichtung des Lebens stimmen, so ist das ein Wunsch nach Milde sich selbst und auch anderen gegenüber.
Das Ideal bleibt wichtig
Bei aller Nachsicht dem Versagen gegenüber bleibt das Ideal wichtig: Als Mensch kongruent leben - das heißt so zu leben, dass die Aussagen, die Forderungen und die Umsetzung im eigenen Leben zusammenstimmen. Wer so als Person authentisch, echt, stimmig lebt, wer das tut, was er/sie sagt, ist eine interessante Person für andere Menschen. Sie wirkt mit Sicherheit durch ihr Leben, nicht nur durch ihre Worte. - Weniger reden, mehr tun und leben. Das wär's doch.
© Mag.a Angelika Gumpenberger-Eckerstorfer, Pastoralassistentin der Diözese Linz
Sozialreferat der Diözese Linz, 05.11.2017
Sozialreferat der Diözese Linz

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Der Größte von euch soll euer Diener sein
(Manfred Wussow 2011)
Eine Predigt über Lasten mag ich heute nicht halten
Ich könnte heute eine Predigt halten über Lasten, die Menschen tragen müssen. Das würde eine lange Predigt werden. Über die Pharisäer von damals - und über die vielen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln auch in unserer Mitte. Aber es wäre ein schweres Unterfangen. Gerecht könnte ich auch nicht bleiben. Schließlich braucht sogar das kleine Glück liebevolle Grenzen - wenn es nicht verschwinden soll, und die Freiheit einen Schutz, wenn sie nicht verkommen soll. Nein, eine Predigt über Lasten mag ich heute nicht halten.
Ein Lastenträger, der von hinten kommt
Aber ich kenne jemanden, der nichts anderes tut, als Menschen Lasten abzunehmen. Er ist ein großer König, er nennt sich "Herr der Heere" und sein Name ist, wie ich gehört habe, bei den Völkern gefürchtet. Gefürchtet? Ja, gefürchtet, weil er nicht zusieht, wie die selbsternannten Herren - von ihnen gibt es gar viele auf der Erde und manchmal auch in weiblicher Form - Menschen Lasten auferlegen und sie klein machen, gebückt und müde. Darf ich Ihnen diese Geschichte in Etappen erzählen?
Zum ersten Mal ist er aufgetaucht, als viele Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Nebukadnezar von Babylon hat mit Jerusalem kurzen Prozess gemacht. Mauer geschliffen, Tempel in Schutt und Asche gelegt, dem König die Augen ausgestochen. Die Menschen aber, wehrlos wie alle, die unter die Räder der großen Geschichte geraten, müssen ihre Heimat verlassen. Deportation nennt man das. Oder einfach nur Vertreibung. Gefangenschaft. Zukunft gibt es nur mit wunden Füßen, mit gebrochenem Kreuz, mit leerem Schädel - wenn überhaupt. Die Leichen müssen am Rand des Weges zurückgelassen werden, die, die nicht mehr können, auch. Es sei denn, man trägt sie huckepack. Nur: die Rücken sind schon beladen und werden von Meter zu Meter gebeugter. So muss es wohl in der Hölle sein. Und da kommt von hinten eine Gestalt, die keiner vorher gesehen hat. Er ist einfach nur da. Er redet auch nicht. Er nimmt die Last in seine Hände. Erst eine Last, dann Last um Last. Vorgestellt hat sich der Fremde auch später nicht. Er verschwindet einfach wieder. Aber wenn die jüdischen Gelehrten von ihm erzählen, leuchteten ihnen die Augen. Es muss wohl Gott selbst gewesen sein, der, von dem es kein Bild gibt - nur den unaussprechlichen Namen.
Können Sie verstehen, dass mich die Geschichte getragener Lasten fasziniert? Dann sehe ich Menschen vor mir, die aufrecht gehen. Die nicht gebrochen werden können. Denen der Mut nicht ausgeht. Ich höre den Propheten Maleachi sagen: Ein großer König bin ich, spricht der Herr der Heere, und mein Name ist bei den Völkern gefürchtet.
Kommt alle her zu mir
Wenn ich jetzt zähle- 1., 2., 3. - weiß ich, dass es nicht ganz korrekt ist. Wie viele Menschen wohl erfahren haben, dass ihnen Lasten abgenommen wurden? Aber ich erzähle ihnen einfach eine zweite Geschichte - ohne vollständig sein zu können. Es ist auch eine Geschichte von Menschen, denen eine große Last auferlegt wird. Vielleicht ist es genau dieser Blick, der sein muss: Lasten werden nicht einfach nur getragen, sie werden auferlegt. Sie sollen getragen werden. Sie müssen getragen werden.
Ich kenne jemanden, der nichts anderes tut, als Menschen Lasten abzunehmen. Er geht einfach zu den Menschen, die versagten, die sich versündigten, die schuldig gesprochen wurden. Manche sogar ohne Anklage, alle ohne Verteidiger. Die Frau am Jakobsbrunnen mit den vielen Männergeschichten, die Prostituierte, die ihn salbt, die Zöllner und Sünder, bei denen er einkehrt. Auf einmal trennen die Regeln, die heilen können, die eine gute Welt abstecken, nicht mehr. Menschen, stigmatisiert, ausgegrenzt und verloren, können wieder neu leben. Ich kenne jemanden, der nichts anderes tut, als Menschen Lasten abzunehmen. Er sagt: Kommt alle her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid - ich will euch erquicken.
Allzu leicht, allzu oft werden Menschen in ihrer Geschichte einfach nur eingemauert. Dann wärmt nicht einmal die Sonne. Kälte breitet sich aus. Es gibt nichts Kälteres als verweigerte Nähe, als abgesagte Gemeinschaft, als verschwiegene Distanz. Da taucht Jesus auf. Er zeigt uns seinen, er zeigt uns unseren Vater - und macht uns alle zu Brüdern und Schwestern.
Eine Predigt über abgenommene Lasten will ich heute halten
Brüder und Schwestern zu sein, zeichnet von Anfang an Kirche aus. Nicht, dass Brüder und Schwestern keine Konflikte, keine Spannungen, keine Langeweile kennten - aber es bleibt alles in der Familie, in der Familie Gottes. Es verändert sich auch alles in der Familie, in der Familie Gottes.
Was das Evangelium heute zu formulieren wagt, ist: Legt einander keine Lasten auf, schenkt euch die große und schöne Freiheit der Kinder Gottes. Dann werden Menschen, die mit ihrer Ehe und Liebe gescheitert sind, zu uns gehören - und auch all die anderen, die bei uns eine Heimat suchen. Ein Zuhause. Liebe. Nähe.
Darum muss ich von dem erzählen, der nichts anderes tut, als Menschen Lasten abzunehmen!
Es fällt wie Schuppen von den Augen: Legen wir anderen Menschen Lasten auf, bürden wir sie ihm auf - er lässt es sich nicht nehmen, sie zu tragen. So habe ich das eigentlich noch nie gesehen. Aber heute muss ich hinschauen. Es gibt so viele Lasten, die ein Mensch in seinem Leben nicht tragen, nicht aushalten kann... Auch nicht für das kleine Glück.
Ein großer König bin ich, spricht der Herr der Heere, und mein Name ist bei den Völkern gefürchtet.
Aber kommt alle her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid: Ich will euch erquicken.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Manfred Wussow, 30.10.2011
Manfred Wussow
Horchen auf das, was Gott von uns will
(Hans Hütter 2011)
"Darf's ein bisserl weniger sein?"
"Darf's ein bisserl mehr sein?" wird man häufig gefragt, wenn man in der Feinkostabteilung einkauft. Noch nie wurde ich gefragt "darf's ein bisserl weniger sein?". Daran muss ich des öfteren denken, wenn ich bei uns im Pflegeheim die heilige Messe feiere. Die alten Leute singen inbrünstig mit, wenn ich Lieder anstimme, für die sie kein Liederbuch und keine Brille brauchen. Allerdings sind sie am Ende der Strophe meist um einen halben oder gar ganzen Ton gesunken, so sehr ich mit meiner kräftigen Stimme dagegen halte. Manchen von ihnen fehlt schon die Kraft, den Ton zu halten, und oft hat auch schon das Gehör nachgelassen, sodass sie die Dissonanz nicht mehr wahrnehmen.
Ich muss darüber jedes Mal schmunzeln, denn für mich ist das ein treffendes Bild für den Umgang vieler Christen mit kirchlichen Vorgaben im seelsorgerlichen Alltag: Von den Priestern erwartet man, dass sie die kirchliche Lehre, vor allem die moralischen Standards unverfälscht vorgeben und hundertzwanzigprozentig vorleben. Für sich selbst aber beanspruchen viele aber ein "Darf's ein bisserl weniger sein?".
Eugen Drewermann hat in seinem Buch "Kleriker. Psychogramm eines Ideals" die These aufgestellt, dass die Priester oft als "Tugendböcke" herhalten müssten. Ähnlich wie man Sündenböcken die ganze Schuld aufbindet und sie damit in die Wüste schickt, lasten viele die Tugenden, die sie selbst nicht leben wollen, den Priestern auf und lassen sie damit allein. Von ihnen erwarten sie, dass sie die christlichen Werte vorbildlich leben, während sie sich selbst davon ausnehmen, wenn dafür Bedarf ist.
Doppelmoral
Wohin eine solche Zweigleisigkeit führt, kann man an der gegenwärtigen Kirchenkrise, bzw. Kleruskrise beobachten. Wenn Priester - ich meine hier nicht Fälle des sexuellen Missbrauchs; diese werden wohl von den meisten scharf verurteilt - in ihrem Alltag so leben, wie die Mehrheit der Bevölkerung, werden sie der Doppelmoral bezichtigt. Man wirft ihnen vor, dass sie Wasser predigen, aber Wein trinken. Für sich selbst aber nehmen viele das "Darf's ein bisserl weniger sein?" in Anspruch. Das ist wohl auch eine Form von Doppelmoral.
Im Evangelium geht Jesus mit der Doppelmoral der Pharisäer und Schriftgelehrten hart ins Gericht. Er wirft ihnen vor, dass sie die Heiligen Schriften zwar streng auslegen, selbst aber nicht die Last dieser Strenge tragen. Gesetzeskundige finden im zivilen wie im religiösen Leben für sich selbst immer wieder Ausnahmen, mit denen sie bestehende Gesetze umgehen. Der Evangelist führt darüber hinaus noch Kritikpunkte an, welche die Kluft zwischen Pharisäern, bzw. Gesetzeslehrern und dem einfachen Volk verdeutlichen. Er deckt Motive auf, die offenbar zu allen Zeiten für die Exponenten der Religionen eine große Versuchung darstellten: Eitelkeit, Geltungssucht und Machtstreben. Versuchungen, mit denen auch heutige Geistliche ringen.
Jesu Aufruf zum Gehorsam
Bevor wir in den Chor der Kritiker einstimmen und betonen, wie recht sie haben, möchte ich darauf hinweisen, welche wünschenswerten Haltungen Jesus den angeprangerten gegenüber stellt: Ihm geht es uns Dienen und Horchen auf das, was Gott von jedem einzelnen will.
Jüngerinnen und Jünger Jesu sollen auf Titel und Ehrenämter verzichten. Nur einer sei ihr Meister, nur einer ihr Vater und nur einer ihr Lehrer. Ihm geht es darum, dass alle auf Gott hören und sich seinem Wort verpflichtet wissen. Darin sind sich alle Jünger gleich. Sie sollen sich hüten, jene Rolle anzunehmen, die im damaligen Judentum die Pharisäer und Schriftgelehrten innehatten.
Inzwischen ist die Geschichte weitergegangen, die Strukturen haben sich geändert, die Hierarchien sind notwendigerweise komplexer geworden. Geblieben ist aber die Versuchung zur Zweigleisigkeit und zu verlogener Doppelmoral; nicht nur für die Priester.
Wie belastend eine etwaige Doppelmoral auf der Ebene der Kleriker ist und wie sehr sie die Glaubwürdigkeit der Kirche untergräbt, ist gerade in letzter Zeit immer wieder diskutiert worden. Wir können uns aber auch keine umgekehrte Doppelmoral im Sinne des "Darf's ein bisserl weniger sein?" leisten. Vor Gott zählt jeder Einzelne. Das Hinhören auf das Wort Gottes und auf den Willen Gottes wird jedem persönlich abverlangt. Auch das Diener-sein bezieht sich auf Gott. Jeder, gleich ob Kleriker, Theologe oder Laie dient Gott in der Kirche und durch die Kirche. Als Diener Gottes sind wir alle gleich in die Pflicht genommen.
Mag. theol. Pater Hans Hütter, 30.10.2011
Mag. theol. Pater Hans Hütter

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Jesu lädt uns ein uns zu besinnen
(Klemens Nodewald 2011)
Worte und Taten
Dem Seelsorger Matthäus kommen die Worte Jesu im heutigen Evangelium wie gerufen. Denn er kann an ihnen aufzeigen, welche Gesinnung, welcher Geist in einer christlichen Gemeinde und in jedem Gläubigen herrschen soll. Zwar gebraucht Jesus die Pharisäer und Schriftgelehrten als warnendes Beispiel, aber es wird nicht unbedacht, sondern bewusst eigens erwähnt, dass Jesus sich an "das Volk und seine Jünger" wendet. Sie und wir sollen überprüfen, wie es um uns steht.
Drei Bereiche zum Nachdenken greift Jesus heraus.
In einem ersten Punkt geht es um die Frage, ob unser Reden mit unseren Taten übereinstimmt.
Moses hatte als erster durch die Niederschrift der Zehn Gebote die Glaubensinhalte des Volkes schriftlich festgehalten. Die danach entstehenden Texte des Alten Testamentes entfalteten auf der Grundlage der Zehn Gebote den Glauben Israels eigentlich nur weiter. Sie zeigen an vielen Einzelbeispielen, wie der Glaube an Jahwe gelebt werden soll. Die Schriftgelehrten und Pharisäer trugen wesentlich dazu bei, dass die Inhalte des jüdischen Glaubens im Volk bekannt wurden und bewusst blieben. Diesen positiven Anteil der Pharisäer und Schriftgelehrten zu sehen, ist Jesus wichtig. Er möchte nicht, dass niemand mehr auf das hinhört, was sie sagen und verkünden, nur weil menschliches Versagen bei ihnen zu finden ist.
Den Hinweis Jesu, die Worte der Pharisäer zu bedenken und zu achten, obwohl ihre Lebensführung nicht tadellos ist, halte ich für sehr wichtig. Denn wohin würden wir in unserer Kirche, in unseren Gemeinden geraten, wenn die Botschaft Gottes nur noch von denen verkündet werden dürfte, die ein untadeliges Leben führen. Welcher Christ ist so vollkommen, dass er stets und immer den ganzen Willen Gottes verwirklicht. Alle, die das Wort Gottes weitersagen und weitergeben - Papst, Bischöfe, Priester, Diakone, Eltern, Lehrer, Katecheten, Ehepartner -, müssen doch von sich sagen: Höre auf das, was ich dir sage, schaue nicht auf meine Taten!
Wir sollen durch die Worte des heutigen Evangeliums aufmerksam werden, uns nicht dazu verführen zu lassen, den Worten anderer keinen Wert mehr beizumessen, sobald wir entdecken, dass ihr Handeln nicht voll mit ihrem Reden in Einklang steht. Natürlich ist es einfacher, auf den zu hören, dessen Reden und Handeln übereinstimmen. Aber an dieser Stelle sollten wir uns schon noch einmal bewusst machen: Auch der Versager, der Sünder kann Richtiges sagen, auf Gutes und Wichtiges aufmerksam machen. Jesus jedenfalls legt uns an Herz: Hört auf das, was sie sagen, auch wenn ihr Handeln zu bemängeln ist. Euch selbst aber überprüft, ob eure Worte mit euren Taten übereinstimmen.
Schwere Lasten
Den zweiten Punkt benennt Jesus mit dem Satz: "Sie binden den Menschen Lasten auf." Jesus kritisiert nicht, dass auch die Pharisäer Menschen sind mit Versagen, Verfehlungen und Sünde. Das hätte er ertragen, wie bei allen anderen. Aber er kämpft gegen die Haltung der Pharisäer, die als religiöse Lehrer und Führer des Volkes den Menschen Gebote und Satzungen aufbürdeten, die sie rigoros einforderten ohne Rücksicht auf den einzelnen Menschen und dessen Lebensumstände.
Jesus will, dass der Glaube den Menschen aufrichtet und erhebt. Damit soll nicht gesagt werden: Glaube dürfe nie etwas mit Last oder Mühe zu tun haben. Aber Last und Mühe müssen dem Glück und Wohl des Menschen dienen. Und alle Forderungen müssen die Lebensumstände des einzelnen Menschen im Blick behalten.
** Wie leicht ist es für jemanden, der von seiner Familie, den Freunden und Kameraden angenommen und geliebt ist, wieder zu lieben und damit das Gebot der Liebe einzuhalten. Aber welche Last trägt der Mensch, der bereits als Kind nicht gewollt wurde, immer wieder abgelehnt und abgeschoben wurde. Wie soll er mit der Liebe zum Nächsten zurechtkommen? Darf man von ihm rigoros das gleiche Maß an Liebe fordern?
** Wie leicht ist es für jemanden, Sonntag für Sonntag mit dem Ehepartner oder gar der ganzen Familie den Sonntagsgottesdienst zu besuchen, im Vergleich zu jenem, der jedes Mal eine Familientragödie heraufbeschwört, wenn er nur die Absicht äußert, zur Kirche gehen zu wollen. Darf man von ihm in gleicher Weise die Einhaltung des Sonntagsgebotes erwarten oder fordern?
** Wie einfach ist es für jemanden, an Gottes Güte und seine Liebe zu glauben, wenn es ihm gut geht und er die Nähe Gottes öfter erfahren hat. Aber wie viel Mühe muss der in seinem Glauben aufwenden, dessen Leben mit Schicksalsschlägen nur so gepflastert ist, der sich von Gott und den Menschen völlig im Stich gelassen fühlt. Welches Ausmaß an Gottesliebe darf man von ihm erwarten?
** Wie leicht kann der verzeihen, dessen Ehre wiederhergestellt wurde im Vergleich zu dem, dessen Zukunft durch Verleumdung so gut wie ruiniert ist.
Jesus will, dass wir in unseren Forderungen an die anderen nicht rigoros sind und ihnen damit Lasten auferlegen, die an den Lebenssituationen und Lebensverhältnissen des einzelnen vorbeigehen. Er will nicht, dass wir an anderen ständig herumzerren, sie mit Vorhaltungen bedrängen oder nicht Leistbares von ihnen fordern. Dem anderen einen Hinweis geben, ihn aufmerksam machen, ihn vorsichtig und einfühlsam ermahnen, das ist in Ordnung. Aber zu mehr sind wir nicht berechtigt. Bevor wir uns allzu lange damit aufhalten, im Leben der anderen herumzuwühlen und negativ Kritik üben, sollten wir uns vielmehr darauf konzentrieren: Wie könnte ich dem anderen helfen, in seinen Lebenssituationen und Lebensbrüchen durch den Glauben aufgerichtet und getragen zu werden.
Ehrenplätze
Im dritten Punkt nimmt Jesus die menschliche Eitelkeit in den Blick.
Jesus bemerkte, wie die Pharisäer nach den Ehrenplätzen schielten und eingeschnappt waren, wenn man sie übersah. Wahrscheinlich hätte Jesus auch das als eine menschliche Schwäche ertragen; jeder sehnt sich nach Anerkennung und Wertschätzung. Aber was Jesus ablehnt, ist die Haltung der Pharisäer, dass sie nicht als Glaubensbrüder begrüßt werden wollen, die mit den anderen auf gleicher Stufe vor Gott stehen. Die Pharisäer sehen sich als die Besseren, als solche, die von Gott mehr geliebt und daher bevorzugt werden. In diesem Gefühl, die Lieblinge Gottes zu sein, fordern sie für sich die Ehrenplätze, diktieren und befehlen sie. Anstatt zu dienen herrschen sie.
Im Hinweis zum dienen - und damit zur Demut - zeigt uns Jesus den Weg, den wir gehen sollen. Er fordert nicht Sündelosigkeit von uns, aber dass wir uns alle Mühe geben, in einem hohen Maß den Willen Gottes zu verwirklichen, damit unser Reden und Handeln nicht einen völligen Widerspruch darstellen. Jesus will, dass wir den Mut haben, uns nicht mit weißer Weste zu präsentieren und besser darzustellen als wir sind. Aufrichtig und ehrlich sollen wir leben.
Dienen bedeutet für Jesus vor allem: Jedem die Barmherzigkeit, Güte und Liebe Gottes verkünden und zugestehen. Wir alle haben in Gott einen gütigen Vater und in seinem Sohn einen barmherzigen Herrn und Meister.
Und wer sich eine dienende Haltung erworben hat, der wird sich auch von einem Sünder, von einem komplizierten und schwierigen Menschen oder von jemandem mit dunkler Vergangenheit etwas sagen lassen. Denn gerade Menschen mit gebrochenem Leben und eigenen Schulderfahrungen begreifen von Gott und seiner Barmherzigkeit oft mehr als die so genannten Gerechten.
Jesus zielt mit seinen Worten also nicht darauf ab, die Pharisäer lächerlich oder madig zu machen und uns am Ende gar dazu zu verleiten, dass wir uns über sie erheben. Es geht Jesus darum, uns am Verhalten der Schriftgelehrten und Pharisäer ein Beispiel zu liefern, wovor wir uns unbedingt hüten und was wir besser machen sollen:
- Unsere Reden und Handeln in hohem Maß in Einklang zu bringen
- Den Nächsten nicht überfordern
- Sich bewusst bleiben, dass Gott alle ohne Ausnahme in seine Liebe einschließt
Missachten wir Jesu Einladung zur Besinnung an uns nicht. Er ringt mit uns um ein Menschsein, das von Liebe, Wohlwollen und Güte geprägt ist.
Pater Klemens Nodewald, 30.10.2011
Pater Klemens Nodewald

Anmerkung der Redaktion: Leider gestattet uns der Echter Verlag keine Zitate aus Büchern, die im Echter Verlag erschienen sind, auch nicht aus Büchern von P. Klemens Nodewald.
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